BJVreport
Der Patient am Rande der Stadt
Ein Artikel aus dem BJVreport von
Senta Krasser


Dem Bayerischen Rundfunk fehlen 70 Millionen Euro und in der neuen Zentrale ist es kalt. Das ist nicht optimal, um endlich vereint in die Medienzukunft mit KI zu springen.
Aber die Neuaufstellung des Newsrooms in „Viewing“ und „Listening“ soll dabei helfen.
Die Zukunft des Bayerischen Rundfunks befindet sich zwischen der Autobahn A 9, dem Heizkraftwerk Nord und dem Klärwerk an der Freisinger Landstraße. Dort draußen am Münchner Stadtrand hat sich die viertgrößte ARD-Anstalt für fast eine halbe Milliarde Euro eine neue Zentrale bauen lassen, wo endlich zusammensitzen soll, was im digitalen Medienzeitalter zusammengehört. Fernsehen, Radio, Web sind keine Parallelwelten mehr mit eigener Verwaltung und Hierarchie an getrennten Standorten. Im hochmodernen Aktualitätenzentrum nebst angrenzendem so genannten Wellenhaus findet die größtmögliche Vernetzung über Mediengrenzen hinweg statt. 2019 war Richtfest. Seit 2024 füllen sich die Büros.
Schöne neue Arbeitswelt? Nun ja, je nachdem, wen man fragt (Architekturkritiker fragt man am besten nicht). Was noch unter dem früheren Intendanten Ulrich Wilhelm unter dem Schlagwort „BR hoch drei“ geplant wurde, wird mal als mehr, mal als weniger schön bewertet. Zu den bisherigen Klagen, vor allem von jenen, die zuvor im Funkhaus am Hauptbahnhof gearbeitet haben („schlechte Anbindung mit dem ÖPNV“, „mit Auto immer im Stau“), ist eine unerwartete hinzugekommen: Man kann sich im Neubau aus Stahl und Dreifach-Sonnenschutz-Isolierglas nicht auf die Temperatur verlassen. Im Sommer ist es zu heiß, im Winter zu kalt.
Das liegt daran, dass das vor über zehn Jahren ersonnene Energiekonzept, das auf energieintensive Klimaanlage und externe Wärmezufuhr verzichtet, erst dann voll greifen kann, wenn die technische Ausstattung und der Umzug der Mitarbeitenden voll umgesetzt sind. Beides läuft derzeit sukzessive, voraussichtlich noch bis 2026. Was das für die Early Mover in diesem Winter bedeutet? Sie frieren. Tragen deshalb indoor Daunenjacke und behelfen sich mit Heizstrahlern aus dem Baumarkt, die im Großraumbüro von Tisch zu Tisch geschoben werden. Lagerfeuerfernsehen einmal anders.
In Aufbruchstimmung
Bauliche Mängel hin oder her: Der Aufbruchstimmung von Christian Nitsche und Christian Daubner tut das keinen Abbruch. Der eine ist BR-Chefredakteur, der andere sein Stellvertreter. Beide Pulloverträger sind augenscheinlich mit wohltemperierten Einzelbüros gesegnet. Gemeinsam wollen sie im Videogespräch mit dem BJVreport erklären, was sich hinter „Viewing“ und „Listening“ verbirgt, diesen neuen mirakulösen Schlagworten, die das Arbeiten im neuen Newsroom in Freimann verändern.
Dafür holt Christian Nitsche weit aus. Geht zurück in den Sommer 2023, als er und Christian Daubner diskutierten, wie sich die Nachrichtenmarke BR24 an die durch die KI-Revolution radikal verändernde Medienwelt organisatorisch anpassen sollte. „Welches Strukturprinzip erleichtert uns den Sprung ins KI-Zeitalter?“, fragten sie sich. Und: „Kann uns eine neue Organisationsform helfen, Synergien zu heben, auch angesichts steigender Kosten, die vom Rundfunkbeitrag nicht aufgefangen werden?“
Letzteres wird ja immer drängender, seit sich beim BR eine Finanzierungslücke von 70 Millionen Euro aufgetan hat und Intendantin Katja Wildermuth (siehe Interview S. 12) auch am Programm sparen will, inklusive in der von Nitsche und Daubner verantworteten Information. So mussten sie zu Jahresbeginn die BR24-Ausgaben am Wochenende kürzen oder streichen. Die werktäglichen 16-Uhr-Nachrichten, zeitgleich live im TV und online gesendet, kommen in der kostengünstigeren und netzaffinen Variante direkt aus dem Newsroom: Es geht los mit einem größeren, für YouTube Thumbnail-tauglichen Schwerpunkt (zum Beispiel „Merz und Migrationsdebatte – Wie einig ist sich die Union?“), erst danach kommt der gewohnte Nachrichtenüberblick bis hin zum Wetter.
Die Priorität ist klar: Es wird in erster Linie für Online konzipiert und aufbereitet, in zweiter Linie steht die Ausstrahlung im BR Fernsehen. So hält es der Sender auch mit seiner neuen Reihe „BR24 vor Ort“ mit Reportagen aus den Regionen. Die Regionalstudios, die früher sehr stark auf Hörfunk ausgerichtet waren, produzieren jetzt primär Content für die ARD-Mediathek und andere Plattformen im Netz. Beide Info-Angebote sind unter der Leitidee Viewing entstanden. Viewing nennen sie beim BR jetzt alles, was optisch konsumiert wird. Organisatorisch verschmelzen dafür TV und Online/Social zu einer Einheit. Daneben steht die Listening-Einheit, also Hörfunk und Podcasts. Das zieht größere Veränderungen im Newsroom nach sich.
Bei der wichtigen, vorgeschalteten Transformationsphase „BR hoch drei“, als sich die Fachredaktionen crossmedial aufstellten und auch in den Regionalstudios Alleskönner heranwuchsen, die alle Ausspielwege bedienen können, hinkte das Team in der Aktualität bislang hinterher. Produziert wurden die News noch immer in den drei Säulen Fernsehen, Hörfunk und Digitales. „Jetzt machen wir den nächsten Sprung“, sagt Chefredakteur Nitsche. Sie versuchten, die Zusammenarbeit unter dem Dach der Marke BR24 „noch integrativer, noch teamfähiger zu gestalten“. Das heißt: Die Mehrzahl der Programmentscheidungen wird jetzt im Newsroom getroffen, wo die CvDs noch mehr Entscheidungsspielraum haben. Die Redaktionsleitungen geben ab und verschieben ihren Fokus in Richtung Qualitätsmanagement, Personalpolitik und strategische Fragen.
Wenn sich Zuständigkeiten und Befugnisse ändern, hat das immer Potenzial für Zwist. Doch Nitsche zufolge gibt es „kein Unwohlsein“, weil sie diesem Prozess „ausreichend Raum“ gegeben hätten. Das neue Strukturprinzip ist für ihn und seinen Vize Daubner quasi alternativlos und „im Grunde eine Lockerungsübung für das KI-Zeitalter“, wo viele Medienformate beim Nutzenden entstehen, nicht mehr in der Redaktion.
Glaubt man den BR-Chefredakteuren, werden sich die Menschen in nicht allzu ferner Zukunft informieren, indem sie dem KI-Assistenten sagen: „Ich habe nur drei Minuten Zeit, was war eigentlich in Aschaffenburg los? Mach mir ein Video.“ Um auch für Anfragen nach längeren Videos gewappnet zu sein, lautet der Auftrag ans Kamerateam: „Macht mehr. Dreht noch mehr Bilder, holt noch zusätzliche O-Töne ein.“ Auch wenn das nicht alles in die „Abendschau“ passt, so gibt es eine Varianz an Ausspielwegen für das Publikum, das sich individuell informieren möchte.
„Wer nicht mitzieht, sich nicht weiterbildet, hat ein Problem.“
- Tamara Link, Fachjournalistin für Wirtschaft und Soziales beim BR
Von der Konsumentenseite aus betrachtet, ist das „macht mehr“ der logische Schritt. Wie die Mitarbeitenden da mithalten bei den ganzen Change-Prozessen, ist wiederum eine andere Frage. Dass sich Beschäftigungsschwerpunkte verlagern, Aufgaben ändern oder wegfallen, gehört in einer sich dynamisch wandelnden Arbeits- und Medienwelt dazu. Zugleich sorgt es für Verunsicherung. So befürchten manche im BR, dass die Arbeitsbelastung noch mehr zunimmt, als sie es durch das trimediale Arbeiten und die Schichtdienste schon geworden ist, weil Reporter*innen in derselben Zeit mehr Ausspielwege bedienen müssen als früher. Mehr Honorar bekommen die Freien dafür übrigens nicht, unterm Strich sogar eher weniger, seit die Arbeit nicht mehr in Werken, sondern in Tagessätzen abgegolten wird, was der BJV seit längerem kritisiert.
Für die einen mag es kein Problem sein, auf der Rückfahrt vom Dreh noch schnell eine Hörfunkminute zu texten und mit zu vertonen. „Aber eigentlich ist es zu viel“, sagt stellvertretend für viele andere Tamara Link, Fachjournalistin für Wirtschaft und Soziales beim BR und Vorsitzende der BJV-Fachgruppe Rundfunk. Was sie gerade jüngeren Kolleg*innen mitgeben kann: „Dass sie die eigenen Grenzen wahrnehmen sollen und klar ihrer Redaktionsleitung sagen: Ich bin schon voll ausgelastet, kann nicht jemand anderes diese Hörfunkminute machen?“
Andererseits, sagt Link, spürten Mitarbeitende Arbeitsverdichtung und Stress nicht nur in der Form: Ich muss mehr machen als zuvor. Sondern: Ich brauche mehr Kompetenzen, um meine Aufgaben erfüllen zu können. „Wer nicht mitzieht, sich nicht weiterbildet, hat ein Problem.“ Autor*innen, die auf dem Standpunkt verharrten: Ich mache nichts anderes als Fernsehen wie all die Jahre zuvor – „das wird auf Dauer nichts“, so Link. „Je mehr Kompetenzen man sich draufschaufelt, desto sicherer bewegt man sich im Gesamtsystem BR, weil man in verschiedenen Bereichen andocken kann.“
Sich mit den Feinheiten eines journalistischen TikTok-Videos vertraut zu machen, auch wenn man bislang nur exzellente TV-Dokumentationen gemacht hat, gehört also dazu. Dass nicht jeder alles kann, ist Chefredakteur Nitsche „klar“. Auf Plattformspezialisten will er nicht verzichten. Gleichwohl setzt er, der mit dem YouTube-Format „7 Fragen Zukunft“ gerade selbst Plattformerfahrung sammelt, stark auf Weiterbildung. Das gilt für das gesamte Haus.
Um die festen wie die freien Mitarbeitenden fit für die Zukunft zu machen, haben die beiden Programmredaktionen des BR bereits seit 2023 ein zusätzliches Gesamtbudget von 300.000 Euro im Jahr für Fort- und Weiterbildungen bereitgestellt. Die Tagessätze für die Fortbildungstage (250 Euro für Freie) werden den Redaktionen rückwirkend von den Programmdirektionen erstattet. Das Angebot ist mehrstufig aufgebaut, reicht von „Community-Management für Einsteiger“ an der ARD-ZDF-Medienakademie bis zu „Crossmediales Storytelling“ im Programm „Kolleg*innen schulen Kolleg*innen“. Es soll unkompliziert buchbar sein über einen Fortbildungskalender, wird aber, teils aus Unwissenheit, teils wegen fehlender Transparenz, noch nicht so rege genutzt wie gewünscht.
„Wir schauen eher auf Potenziale als auf formale Qualifikation.“
- Katrin Pötzsch, Leitung Journalistische Ausbildung beim BR
Dabei ist der Schulungs- und Umschulungsbedarf im Haus enorm. Es gibt praktisch keine Abteilung, die nicht vom Change betroffen ist, auch nicht vom demografischen Wandel. In den nächsten zehn Jahren werden sehr viele BR-Mitarbeitende in Pension gehen. Um den öffentlich-rechtlichen Auftrag weiter erfüllen zu können, braucht es Nachrücker. Darum kümmert sich Katrin Pötzsch.
Die langjährige BR-Journalistin und Change Managerin leitet seit Juli 2024 die journalistische Ausbildung. Bereits vor ihrem Amtsantritt verdoppelte der BR Anfang 2024 die Voloplätze auf 24. Damit bildet der BR im ARD-Vergleich mit Abstand die meisten Nachwuchskräfte aus. Parallel erarbeitet Pötzsch mit ihrem Team neue „Kompetenzprofile“, die Antwort geben sollen auf die Frage: Wen braucht der BR in Zukunft? Braucht es noch den Allrounder oder eher Redakteur*innen mit ausgeprägtem Technik- und Datenwissen? Braucht es überhaupt noch Autor*innen und Reporter*innen oder ist eher der Typus Projektmanager*in gefragt?
„Schon jetzt gehen die Anforderungen an Redakteur*innen weit über das klassische Profil hinaus“, sagt Pötzsch. Worauf sie bei Bewerber*innen schaut? „Eher auf Potenziale als auf formale Qualifikation.“ Ein Studium ist seit 2022 nicht mehr Voraussetzung, stattdessen „vielfältige Perspektiven und Positionen, Lebensentwürfe und Biografien“. Das heißt: „Es spielt weniger eine Rolle, was jemand schon kann, sondern wohin wir jemanden entwickeln können.“ Wer jetzt glaubt, dass man der GenZ in Sachen Social Media nicht viel beibringen muss, den enttäuscht Katrin Pötzsch: „Klar, die sind alle auf Insta und auf TikTok. Das heißt aber nicht, dass sie per se wissen, wie man ein gutes journalistisches Reel baut.“
Für die Ausbildungsleiterin bleibt also viel zu tun. Nur in einem Punkt muss sie sich nicht mehr sorgen: dass sie und die Volos auf dem neuen BR-Campus frieren. Auf Nachfrage teilt die BR-Pressestelle mit, dass das Wohlbefinden der Kolleg*innen im Neubau „natürlich höchste Priorität hat“. Die Verwaltungsdirektion habe für diesen Winter „eine Übergangslösung unter anderem mit einer mobilen Heizzentrale“ umgesetzt. Parallel werde das Gesamt-Klimakonzept überprüft.
Dieser Artikel erschien zuerst im BJVreport 1/2025.
Transparenzhinweis:
In der gedruckten Ausgabe des BJVreport 01/2025 kam es zu zwei Fehlern im Artikel „Der Patient am Rande der Stadt“. Die Verdoppelung der Voloplätze erfolgte – anders als von uns geschrieben – nicht als eine der ersten Maßnahmen von Katrin Pötzsch, sondern bereits Anfang 2024. Pötsch übernahm erst zum 1. Juli 2024 die Leitung der Ausbildung. Auch der Satz „Ein Studium ist seit einem Jahr nicht mehr Voraussetzung (fürs Volontariat)“ stimmte nicht – das gilt bereits seit 2022. Wir bitten beide Ungenauigkeiten zu entschuldigen. Im Artikel oben sind die beiden Stellen korrigiert.