BJVreport
Die Datenbändiger
Ein Artikel aus dem BJVreport von
Michaela Schneider

Wie aus Zahlen Geschichten werden. Datenjournalismus bietet die Chance, komplexe Themen verständlich und zugänglich zu machen.
Ob mit eigenen Tools für eine rasend-schnelle, hyperlokale Wahlberichterstattung oder um etwa eine Schieflage bei der Straßennamensgebung zu untermauern.
Eigentlich ging es im Artikel seines Kollegen um etwas völlig anderes: Mehrere Straßen in Aschaffenburg sollten umbenannt werden aufgrund der Nazivergangenheit ihrer Namensgeber. Dass die Stadt auf ihrer Homepage sämtliche Straßen gelistet habe – eine Randnotiz. Kevin Zahn, Lokal- und Datenjournalist beim Main-Echo, aber fuhr nach Hause, zog mithilfe der Programmiersprache Python die Daten von der Homepage systematisch in eine Tabelle herunter und begann, den Datensatz aus rund 300 Straßennamen zu analysieren.
Eine Aktion mit Folgen. Mit dem kurzen Main-Echo-Artikel „Gibt’s mehr Karls als Frauen in der Stadt?“ und umso mehr Informationen in Torten- und Balkengrafiken, einer Karte und weiteren visuellen Elementen legte der Lokal- und Datenjournalist im August 2023 den Finger in eine bis dahin kaum beachtete Wunde: Männer dominieren seit jeher als Namensgeber in Aschaffenburg – und seit 100 Jahren ändert sich daran nichts. Während in der unterfränkischen Kommune 174.272 Straßenmeter nach den Herren der Schöpfung benannt sind, kommen die Damen nur auf einen Bruchteil von 10.334 Metern.
Das an sich war wenig überraschend. Doch so anschaulich ausgewertet, analysiert und visualisiert hatte es bis dahin niemand. Neben viel Resonanz aus der Leser- und vor allem Leserinnenschaft führte die Recherche dazu, dass die Stadt Aschaffenburg nach Veröffentlichung drei Straßen nach Frauen benannte. „Daran hatte sie das letzte Mal 1999 gedacht“, sagt Kevin Zahn. Die Grundlagen des Datenjournalismus wie auch das Programmieren hatte sich der Lokalreporter seit 2022 autodidaktisch beigebracht – über Tutorials im Netz, ein paar Seminare und Tipps von Kolleg*innen. 25 bis 30 datenjournalistische Projekte habe er seither zusammen mit Kolleg*innen aus Grafik und Technik umgesetzt – wie es der Alltag eines Lokalreporters eben nebenher noch zulässt.
Von Sylt bis Oberstdorf
Das Straßennamen-Projekt ist ein Beispiel dafür, dass Datenjournalismus auf lokaler Ebene angekommen ist und sich längst nicht nur im Investigativen alla Panama Papers ganz neue Chancen auftun. Da geht es etwa bei Ippen Digital um die „politische Stimmung von Sylt bis Oberstdorf“ im Zuge der Wahlen oder um die Verbreitung invasiver Arten in Deutschland. Correctiv erarbeitete einen Grundwasseratlas oder beschäftigte sich mit Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland.
Datenjournalismus biete viele Chancen, komplexe Themen verständlich und zugänglich zu machen – beispielsweise durch eine ansprechende visuelle Aufbereitung, sagen die beiden Correctiv-Mitarbeiter Datenjournalist Max Donheiser und Klimajournalistin Katarina Huth. Durch die Analyse großer Datensätze könnten verborgene Geschichten entdeckt werden. Datenjournalismus spiele eine zentrale Rolle, um Trends und Ungerechtigkeiten ans Licht zu bringen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Mit Correctiv.lokal hat das Journalismuskollektiv außerdem ein Angebot für Lokaljournalist*innen geschaffen, gemeinsam werden Themen identifiziert, die an vielen Orten gleichzeitig relevant sind. Correctiv stellt den Kooperationspartnern das Recherchematerial zur Verfügung, meist handelt es sich um datengetriebene Geschichten.
Wie herausfordernd es mitunter sein kann, Vergleichsdaten „auszugraben“ zeigte etwa eine Correctiv-Recherche zum Thema Versiegelung, aus der später der Beitrag „Städte in der Klimakrise: Zwischen Asphalt und Beton“ resultierte. Miteinander verglichen wurden über Satelliten- und Luftbilder drei Städte zu mehreren, gleichen Zeitpunkten. Nur: Sobald es laut Donheiser und Huth zum Beispiel an einem der Orte zu wolkig oder zu sonnig war, passte die Auflösung der Bilder nicht und die Aufnahmen waren nicht verwendbar.
Nicht von ungefähr werden Daten gern als „das neue Öl“ bezeichnet – ein unglaublich wertvoller Rohstoff, macht man sich die Mühe des Bearbeitens. Als die Mediengruppe Oberfranken 2014 ein Projekt startete, um Funklöcher in Franken zu dokumentieren, arbeiteten die Journalist*innen noch mit der Universität Bamberg zusammen, die die technische Seite der Datensammlung übernahm. Das braucht es heute nicht mehr: Interaktive Erzählformate in Kombination mit Datenbanken sind längst journalistischer Alltag – jede Menge nützliche Tools inklusive (siehe Seite 16 im BJVreport 02/2025). Und große Medienhäuser wie der Bayerische Rundfunk (siehe Seite 14f.) oder die Süddeutsche Zeitung (SZ) haben längst eigene Redaktionen etabliert.
„Wir wollen die Berichterstattung zu Großthemen wie Klima, Weltpolitik, Energie bereichern. Wir wollen eigene Themen setzen.“ — Marie-Louise Timcke, Leiterin des SZ-Datenressorts
Marie-Louise Timcke, Jahrgang 1992, leitet seit 2022 das zehnköpfige Datenressort der SZ – drei Volontär*innen und ein freier Kollege inklusive. Zum Datenjournalismus kam sie wie die Jungfrau zum Kinde: Sie studierte Wissenschaftsjournalismus an der TU Dortmund, wollte sich auf Medizin spezialisieren, ihr Professor überredete sie stattdessen zum Datenjournalismus. „Ich wollte es zwei Wochen ausprobieren und war mir sicher, dass ich es doof finden würde. Nach zwei Wochen aber war ich komplett überzeugt.“ Davon, alle Recherchemethoden und Formate des Journalismus kennenzulernen – und überdies „diesen krassen Werkzeugkasten“ an die Hand zu bekommen, mit dem die angehende Journalistin zusätzlich noch so viel mehr Recherchebasis schaffen und Themen setzen könne. Recherchen, die sonst Monate dauern würden, ließen sich durch Automatisierung innerhalb weniger Tage umsetzen.
Sowieso spielt der Bereich Automatisierung gerade auch in den großen Medienhäusern eine immer zentralere Rolle. Bei der SZ geschieht dies etwa, um die Wahlberichterstattung weiterzuentwickeln. Dafür hatte Timckes Team ein eigenes Codepaket geschrieben und Daten – ob es um die Bundes- oder Landtagswahl oder auch um US-Wahlen geht – könnten topaktuell in „wunderschönen Grafiken im Stile der SZ direkt raus in die Welt katapultiert“ werden. Der initiale Aufbau kostete Zeit, auf Aktuelles aber kann das Medienhaus nun umso schneller reagieren.
Sobald relevante Datenquellen wie etwa die dpa neue Umfragedaten oder Wahlergebnisse einzelner Wahlkreise veröffentlichen, werden diese automatisch in die entsprechende Grafikform übersetzt. Gleiches gilt für Texte. Die, betont Timcke, würden nicht von KI-Generatoren geschrieben, sondern ihr Team habe für jedes mögliche Szenario eine „Wenn-Dann-Schleife“ festgelegt. Heraus komme eine genau auf den eigenen Wahlkreis zugeschnittene Textanalyse. „Wir könnten nicht in der Nacht selbst 400 Artikel schreiben.“ Automatisierung aber macht sogar auf hyperlokaler Ebene eine passgenaue Berichterstattung möglich.
Narrative aus Russland
Aktuell bauen die SZ-Datenjournalisten außerdem eine Infrastruktur weiter auf, um noch schneller auf Desinformation reagieren zu können: Ein Tool soll neue Narrative aus Russland mit Bezug zu Deutschland ausmachen, sobald diese auf Plattformen wie Telegram ins Rollen kommen. Timcke spricht von einem „Recherchetool, um sofort zu merken, da ist was im Busch“.
Gleichzeitig liegt dem SZ-Ressort daran, eigene Themen zu setzen. Ein Projekt aus dem Jahr 2022, auf das die Datenjournalistin nach wie vor stolz ist, war eine Recherche zum Thema Kinderkleidung. Sind die Hosen von Mädchen tatsächlich kürzer als jene von Jungs? Wie unterscheidet sich die Farbpalette? „Wir konnten eine gefühlte Wahrheit sehr anschaulich belegen“, sagt Marie-Louise Timcke. „Gegenderte Kinderkleidung: Hotpants für Mädchen, Shorts für Jungs“ wurde eine der erfolgreichsten Geschichten des Ressorts und war für den Reporterpreis 2022 nominiert.
Limitierender Faktor – egal ob als ein Einzelkämpfer wie Kevin Zahn beim Main-Echo oder im großen Datenjournalist*innen-Team – bleibt am Ende vor allem doch immer die Zeit. Jedes Projekt sei ein kleines Managementwunder, sagt Marie-Louise Timcke. Gerade auch, weil Datenjournalismus immer Teamarbeit bedeutet und verschiedene Arbeitsrhythmen unter einen Hut zu bringen sind. Nur: Letztlich kostete gute Recherche immer schon vor allem eines – Zeit. 2011 beschrieb Lorenz Matzat, Macher des Portals datenjournalist.de, die „Recherchereise in Datenberge“ als „digitale Rückbesinnung auf journalistische Tugenden, die gerade ihre Renaissance in immer mehr Recherchepools“ finde.
Mehrfach ausgezeichnet und auch schon Thema im BJVreport war die groß angelegte, gemeinsame Recherche von Main-Post und Bayerischem Rundfunk zur Frage, wieviel Wasser aus dem Grundwasser, dem Main und anderen Gewässern in Unterfranken abgepumpt wird (BJVreport 4/2024: „Datenlücken, blockierende Behörden und am Ende der Wächterpreis“). Das Team trug mehr als 2000 Daten zusammen und fand heraus, dass die Behörden in Unterfranken in Mehrheit selbst nicht wissen, ob sich Landwirte, Winzer, Privatleute, Gemeinden und Industrie an die genehmigten Mengen halten. Auch im Regionalen kann Datenjournalismus den Weg ebnen für investigative Recherchen.
Oder er kann ganz praktischen Servicecharakter für die Leserschaft haben: Wie Jonas Keck, Mitglied der Main-Post-Schwerpunktredaktion berichtet, warf die Reform der Grundsteuer bei jedem Einzelnen die Frage auf: Wie viel muss ich künftig zahlen? Drei Volontär*innen entwickelten deshalb einen Grundsteuer-Rechner, damit können Nutzer*innen bei Eingabe wesentlicher Daten seither die Höhe der Grundsteuer für sich ermitteln. Eine interaktive Karte zeigt außerdem, wie unterschiedlich die Hebesätze in Unterfranken sind.
Für Jonas Keck liegt im Datenjournalismus überdies die Chance, den öffentlichen Diskurs auf eine faktenbasierte Grundlage zu stellen: „Statt Meinungen oder Einzelfällen werden systematische Analysen genutzt. Das stärkt die Glaubwürdigkeit von Medien.“ Gleichzeitig sei die Dokumentation, welche Daten wann und wie beschafft und wie sie strukturiert, gefiltert und analysiert wurden, sehr aufwändig – aber unverzichtbar.
Dieser Artikel erschien im BJVreport 2/2025.
Drei praktische Tipps fürs erste Datenjournalismus-Projekt
Datenjournalist Max Donheiser und Klimajournalistin Katarina Huth von Correctiv empfehlen:
- 1. Bevor du mit der Analyse beginnst, ist es wichtig, die Quelle der Daten zu verstehen. Woher kommen sie? Wie wurden sie erhoben? Gibt es mögliche Verzerrungen oder Fehler in den Daten? Stelle sicher, dass du die Methodologie hinter den Daten überprüfen kannst und kläre, ob sie zuverlässig sind.
- 2. Dann ist es wichtig, die Geschichte in den Daten zu finden. Sie sollte möglichst relevant für deine Zielgruppe sein.
- 3. Vermeide es, Schlussfolgerungen zu ziehen, die nicht durch die Daten gestützt werden. Sei vorsichtig mit Korrelationen, die keine Kausalität beweisen. Teste immer deine Hypothesen und Annahmen. Überlege, wie du deine Ergebnisse validieren kannst, um sicherzustellen, dass sie korrekt sind.