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BJVreport

Interview: „Es gibt keinen sicheren Ort für Journalisten“

19.12.2024
Ein Interview aus dem BJVreport von
Maria Goblirsch

Wenn der Luftalarm auf dem Smartphone schrillt, sei das ein Alarmsignal für ganz Europa, sagt Sergiy Tomilenko.

Der Vorsitzende des ukrainischen Journalistenverbands Sergiy Tomilenko spricht über die Situation der Kolleg*innen in der Ukraine. Der BJV ruft zu Spenden für ukrainische Lokalzeitungen auf.

An dem Tag, an dem er von Kiew nach München reiste, herrschte in der ukrainischen Hauptstadt acht Stunden lang Luftalarm. Russische Drohnen beschädigten Gebäude in fünf Bezirken Kiews, Menschen wurden verletzt. „Das ist unsere tägliche Realität“, sagt Sergiy Tomilenko, Vorsitzender des nationalen Journalistenverbandes (NUJU). Wie arbeiten ukrainischen Journalist*innen an der Front und im Land unter Kriegsbedingungen?

Wie viele ukrainische Journalist*innen sind derzeit noch im Land?

Exakte Zahlen liegen uns nicht vor. Was ich sagen kann, ist, dass 40 Prozent der Medienunternehmen nach der russischen Invasion wegen wirtschaftlicher Probleme aufgegeben haben. Etwa 20 Prozent der Medienschaffenden wurden aus ihren Heimatstädten evakuiert und mussten den Beruf aufgeben, weil sie nicht mehr davon leben können. Das ist für uns eine große Herausforderung. Die meisten bleiben aber im Land, nur wenige verlassen die Ukraine.

Wie viele Opfer hat der Krieg unter den Journalist*innen bisher gefordert?

Seit dem Beginn der Invasion im Februar 2022 wurden mindestens 103 Medienschaffende getötet, 18 von ihnen, während sie ihrer Arbeit nachgingen. Das letzte Opfer war die 28-jährige ukrainische Journalistin Victoria Rohchina, die seit August 2023 verschwunden war und am 19. September dieses Jahres in russischer Gefangenschaft starb. Mehr als 30 Medienarbeiter und Bürgerjournalisten befinden sich aktuell in Haft, darunter fünf Frauen. Sie werden gefoltert, ihnen werden terroristische Taten vorgeworfen.

Wie sind die Bedingungen für die Berichterstattung an der Frontlinie?

Wir versuchen, das als unsere normale Realität anzunehmen und damit zu leben. Die größte Herausforderung ist, dass es im Moment keinen sicheren Ort für Journalisten in der Ukraine und auch in Kiew gibt. Russische Raketen und Drohnen zerstören Gebäude, darunter auch Sender und Medienhäuser, sowie die Infrastruktur in den Dörfern und Städten an der Front. Es gibt keine Elektrizität mehr, kein Internet. Gibt es stundenweise Strom, nutzen die Journalist*innen das, um Berichte zu schreiben oder lokale Zeitungen zu drucken.

Ist aus den besetzten Gebieten noch eine unabhängige Berichterstattung möglich?

Nein. Es ist für uns als ukrainische Journalisten verboten, diese Gebiete zu betreten. Tun wir es doch, werden wir verhaftet. Russland will die besetzten Gebiete isolieren und jede Form von unabhängigen Nachrichten im Keim ersticken.

Wie halten die Journalist*innen diese extreme psychische Belastung aus?

Die Belastung ist extrem. Sie interviewen traumatisierte Menschen nach der Zerstörung ihrer Wohnung, die alles verloren haben, oder Opfer von Kriegsverbrechen, sie berichten täglich von Gräueltaten. Viele halten das nicht aus und geben den Beruf auf. Wir als Gewerkschaft versuchen, die Kollegen mit Workshops und psychologischer Hilfe zu unterstützen. Ein Ziel ist es dabei, dass sie auch über positive Begegnungen und Ereignisse berichten und sich nicht nur auf die Kriegsberichte fokussieren.

Wie viele dieser Hilfszentren hat die NUJU geschaffen, was wird dort angeboten?

Wir haben ein Netzwerk von sechs regionalen Solidaritätszentren geschaffen, die einheimische und internationale Journalisten in Notfällen unterstützen, etwa mit einem Sicherheitstraining, dem Verleih von Schutzausrüstung oder verschiedenen Schulungen. Es ist ein Ort, wo sich Journalisten treffen und miteinander sprechen, aber auch arbeiten können.

Es gebe auch Hoffnung, sagen Sie in einem Film über Lokalzeitungen an der Front.

Ja, 32 lokale Zeitungen kommen weiterhin an vorderster Front heraus. Journalisten bringen sie unter Lebensgefahr in die Dörfer, in denen nur noch wenige, meist alte Menschen ausharren. Wenn es dort kein Licht, keine Kommunikation und kein Internet gibt, bleiben die Printmedien die einzige Informationsquelle, die buchstäblich Leben rettet, etwa mit aktuellen Informationen zu Evakuierungsplänen und humanitärer Hilfe.

Laut Spiegel bedrohe die ukrainische Regierung die Pressefreiheit, weil sie Redaktionen wie die ukrainische Prawda unter Druck setze.

Das ist ein heikles Thema. Es gibt in der Ukraine keine offene Zensur. Was uns beunruhigt, ist, dass die Regierung nur große Sender finanziell unterstützt, die sie auch kontrolliert, nicht aber andere Medienbereiche und kleinere Medienunternehmen. Die sind auf Dauer wirtschaftlich nicht stark genug, um zu überleben. Wir fordern, dass die internationale Hilfe davon abhängig gemacht wird, dass die Pressefreiheit in der Ukraine erhalten wird inklusive einer Rechenschaftspflicht.

Was wünschen Sie sich von den deutschen Kolleg*innen?

Meine Hauptbotschaft ist: Lasst die Ukraine nicht aus Euren Zeitungskolumnen, aus euren Reportagen und Nachrichtenfeeds verschwinden, sendet weiter Korrespondenten in die Ukraine, um authentisch zu berichten. Wenn der Luftalarm auf unserem Smartphone schrillt, ist das nicht nur eine Warnung für uns in der Ukraine. Es ist ein Alarmsignal für ganz Europa.

Dieser Artikel erschien zuerst im BJVreport 5/2024.


 

„Wir sind Lichter in der Finsternis“

Der BJV ruft zu Spenden für ukrainische Lokalzeitungen im Frontgebiet auf

„Unsere Freiheit wird nicht nur von Kanonen, sondern auch von uns Journalistinnen und Journalisten verteidigt. Die Demokratie stirbt in der Finsternis. Wir sind die Lichter, die dies nicht zulassen dürfen. Die Lage ist ernst, aber wir sind eine starke Gemeinschaft“, sagte der DJV-Vorsitzende Mika Beuster beim Verbandstag in Ingolstadt. Er sprach damit „die Großwetterlage in der Weltpolitik“ an und den Krieg in der Ukraine, der auch unter Journalist*innen viele Opfer fordert. Wo unabhängige Berichterstattung oft nur unter Lebensgefahr möglich ist und Medienhäuser und Redaktionen von Bomben zerstört wurden.

Was können wir tun, um unser Mitgefühl und unsere Solidarität nicht nur in Worten auszudrücken? Der Landesverband Sachsen stellte beim DJV-Verbandstag in Ingolstadt einen Dringlichkeitsantrag, der vom Plenum einstimmig verabschiedet wurde. Danach soll die Bundesgeschäftsstelle in Absprache mit dem Nationalen Journalistenverband der Ukraine (NUJU) kurzfristig eine Spendenaktion organisieren, deren Erlös den lokalen Frontzeitungen zugutekommt.

Der BJV startet als erster Landesverband zu Weihnachten diese Aktion und bittet um Geldspenden auf das Konto des DJV-Hilfsvereins, versehen mit dem Stichwort „Spende Ukraine“. Die Spendengelder werden von der NUJU in der Ukraine an die lokalen Frontzeitungen verteilt. Diese werden dringend benötigt, um zum Beispiel Arbeitsmittel wie Laptops, Kameras oder Speichermedien neu beschaffen zu können. Die Verwendung der vom DJV gesammelten Gelder wird dokumentiert und transparent gemacht. Auf Wunsch kann eine Spendenquittung ausgestellt werden.

Der BJVreport wird darüber berichten, wie die Gelder konkret dazu beitragen, die Arbeit unabhängiger ukrainischer Journalist*innen und Medien zu unterstützen. Bitte helfen Sie mit, Licht in die Finsternis zu bringen. Auch kleine Beiträge helfen.

Maria Goblirsch

Spendenaktion

Bitte überweisen Sie ihre Spende an den Hilfsverein des Deutschen Journalisten- Verbandes (DJV-Hilfsverein) e.V. mit dem Verwendungszweck: „Spende Ukraine“
Deutsche Bank AG
IBAN: DE36 3807 0059 0026 6106 00
BIC:  DEUTDEDK380

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