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Pressefreiheit

Letzte Generation: Polizei nahm 171 Journalist*innen in „Ohrenschein“

09.08.2024
Artikel aus dem BJVreport von
Maria Goblirsch

171 Journalistinnen und Journalisten waren von der Abhörung des Pressetelefons der "Letzten Generation" betroffen.

Die Kolleg*innen hatten auf dem Pressetelefon der "Letzten Generation" angerufen und waren abgehört worden. Der BJV kündigt Verfassungsbeschwerde an.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien im BJVreport 03/2024 Ende Juli 2024. Anfang August 2024 wies das Landgericht München I die eingereichte Beschwerde eines betroffenen Mitglieds zurück. Der BJV kündigte daraufhin an, Verfassungsbeschwerde einzureichen (Siehe Pressemitteilung vom 09.08.2024).

Im März 2024 erhielt eine BR-Mitarbeiterin Post von der Generalstaatsanwaltschaft München. Ihr wurde mitgeteilt, dass ihr Gespräch, das sie mit einer Klimaaktivistin der Letzen Generation über deren Pressetelefon geführt hatte, überwacht worden sei. Die freie Journalistin war nicht die einzige, deren telefonische Kommunikation mit der Vereinigung abgehört worden war. Auch Kolleg*innen der ARD, von Spiegel, Süddeutscher Zeitung (SZ), der taz und weiteren Medien waren betroffen.

Doch von vorne. Nach einem Bericht des Journalisten Ronen Steinke in der SZ, der selbst überwacht worden war, rief der BJV betroffene Mitglieder dazu auf, sich zu melden. Er beriet die BR-Kollegin, die später von ihrem eigenen Haus rechtlich vertreten wurde. Bereits im Juli 2023 legte der BJV im Fall einer weiteren freien Journalistin Beschwerde gegen die Anordnung der Lauschaktion ein.

Auf Anfrage des BJVreport teilte die Generalstaatsanwaltschaft München mit, dass sie im Juli 2023 zunächst elf Briefe versandt habe und dann „mit Verfügung vom 18.03.2024 weitere 160 Benachrichtigungen an als Pressevertreter identifizierbare Drittbetroffene“. Das bedeutet, dass 171 Journalist*innen aus dem gesamten Bundesgebiet von der bayerischen Polizei bei ihren Telefonaten heimlich belauscht und nachträglich darüber informiert worden sind. Wann immer jemand auf dem Pressetelefon angerufen hatte – etwa, um von geplanten Aktionen zu erfahren oder einen O-Ton zu bekommen – war das Gespräch überwacht worden. Die Telefonate seien nicht live ausgewertet, sondern erst später „in Ohrenschein genommen“ worden (O-Ton eines Gerichtsbeschlusses).

Als „Drittbetroffene“ überwacht

Die Lauschaktion über die Telefonanschlüsse der letzten Generation hatte ein Richter des Amtsgerichts München angeordnet, um Ermittlungen gegen sieben Mitglieder der Vereinigung wegen des Anfangsverdachts der Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu stützen. Dazu wurden die Journalist*innen bei ihren Anrufen wie der Beifang beim Angeln als so genannte Drittbetroffene überwacht. Am 29. November 2023 teilte der Pressesprecher des Amtsgerichts München, Dr. Martin Swoboda, dann mit, Gespräche mit Pressevertretern seien „als nicht verfahrensrelevant eingestuft“ worden. Dennoch wurde die Anordnung zur Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) bis zum 26. April 2024 verlängert. Dabei war der Berliner Festnetzanschluss auf der Website der Letzten Generation eindeutig als Pressekontakt ausgewiesen. Wie sich im Nachhinein herausstellte, riefen dort überwiegend Pressevertreter*innen an.

Nach aktueller Gesetzeslage sind Journalist*innen Berufsgeheimnisträger. Das heißt: Für diesen Berufszweig muss ein anderer Maßstab angelegt werden als bei Privatanschlüssen, über die sich Aktivist*innen beispielsweise zu Protestaktionen verabreden. Journalist*innen steht nach Strafprozessordnung (Paragraf 53 StPO) ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Zwar dürfen auch sie abgehört werden (§ 160a StPO). Aber nur dann, wenn es um Straftaten von erheblicher Bedeutung geht.

Für einen Beschluss zur Telekommunikationsüberwachung braucht es zudem eine Interessensabwägung. Auf der einen Seite steht das Interesse der Behörden, Erkenntnisse zur Aufklärung einer möglichen Straftat zu bekommen; auf der anderen Seite das Interesse des einzelnen Bürgers, nicht abgehört zu werden. Richtet sich der Beschluss gegen eine Journalistin oder einen Journalisten, sind die Hürden noch höher. Nach § 162 a StPO sind an die Güterabwägung besondere Anforderungen zu stellen, da die Freiheit der Presse in Artikel 5 Grundgesetz geschützt ist. Unter diesen Schutz fallen auch Recherche und Informationsbeschaffung.

Rechtsexperten beim BJV, bei den betroffenen Medien sowie Vereinigungen wie „Reporter ohne Grenzen“ (RSF) und der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ (GFF) kritisieren, dass im Fall der betroffenen Pressevertreter*innen eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit in der ersten Phase der TKÜ nicht und später nicht ausreichend stattgefunden habe und das Abhören der Pressegespräche daher rechtswidrig war. Sie sehen einen klaren Verstoß gegen die Pressefreiheit. In den Beschlüssen des Amtsgerichts, die die Überwachung möglich machten, wurden die Grundrechte nicht einmal erwähnt.

Das Amtsgericht München wies die Beschwerde des BJV als unbegründet zurück (Az.: ER VII GS 13231/23). In der Begründung heißt es, es sei „unbeachtlich, dass zur Frage der Verhältnismäßigkeit keine weitschweifenden Ausführungen in den beanstandeten Beschlüssen enthalten sind“. Stehe fest, dass der Ermittlungsrichter die Voraussetzungen für den Erlass eines beanstandeten Beschlusses eigenständig geprüft habe, könne die Beschlussbegründung auch nachgeholt werden.

Für BJV-Syndikusanwalt Jakob Bürner und den Verband steht hier mehr als nur ein Einzelfall auf dem Spiel. Es geht um die Frage, inwieweit die Freiheit journalistischer Recherche beschnitten werden darf, um möglicherweise strafbare Aktionen auszuforschen. In der Härte, wie Generalstaatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter in München argumentieren, ist das ein Novum. Aktivisten, so heißt es im Beschluss des Amtsgericht München, legten es darauf an, in die Medien zu kommen. Publicity sei für die Letzte Generation essenziell, ihre besondere Organisationsstruktur durch den gezielten Einsatz der Presse gekennzeichnet. Deshalb gehe es, wann immer sie mit Journalist*innen tele­fonierten, auch um einen „gezielen Ge- beziehungsweise Miss­brauch der Presse“. Letztlich habe im Raum gestanden, dass sich die Vereinigung „der Presse gezielt als Tat- und Propagandamittel bediente“.

Sorge vor Präzedenzfall

Und damit steht die Presse nicht mehr unabhängig außerhalb der Szene? Eine gefährliche Argumentation, warnt Syndikusanwalt Jakob Bürner, und weiter: „Das tangiert zum einen die Existenz der freien Presse, die selbst entscheiden darf, wann was veröffentlicht wird. Zum anderen betont das Amtsgericht den ,gelenkten Einsatz der Presse in einer besonderen Organisationsstruktur‘. Das könnte dazu führen, dass Journalist*innen künftig mit dieser Begründung vermehrt überwacht werden und das nicht nur als Drittbetroffene.“ Daher werde man in diesem Musterfall den Rechtsweg weiter beschreiten, notfalls  bis zum Bundesverfassungsgericht gehen. Unterstützen wird der prominente Würzburger Rechtsanwalt Chan-jo Jun.

Auch der BR verfolgt die Sache. „Wir haben die aktuellen Fälle von Überwachung der Telekommunikation von Journalistinnen und Journalisten aufs Engste begleitet und beraten die betroffenen Kolleginnen und Kollegen juristisch“, erklärt Pressesprecher Markus Huber. „Welche nächsten Schritte wir unternehmen, stimmen wir in solchen Fällen, in denen mehrere ARD-Anstalten betroffen sind, mit den anderen Häusern der ARD, im eigenen Haus und mit den Betroffenen ab.“ Dieser Abstimmungsprozess laufe gerade.

Wie geht es weiter? Das Ermittlungsverfahren gegen mögliche Mitglieder der Letzten Generation, als dessen Bestandteil die Lauschaktion gegen die 171 Journalist*innen bis April 2023 erfolgte, ist noch bei der Generalstaatsanwaltschaft München anhängig und nicht beendet, teilt Dr. Martin Swoboda, Pressesprecher des Amtsgerichts München, auf Nachfrage des BJVreport mit.

Nächste Station: Landgericht München.


Hintergrund

Wann dürfen Journalist*innen belauscht werden?

Das Abhören von Telefongesprächen der Presse ist nicht per se verboten. Aber die Behörden müssen vor einer Anordnung sehr genau Pressefreiheit gegen Strafverfolgung abwägen. §160 a StPO sagt dazu:  Würden dadurch Erkenntnisse erlangt, über die die Journalist*in das Zeugnis verweigern dürfte, so ist dies „im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit besonders zu berücksichtigen. Betrifft das Verfahren keine Straftat von erheblicher Bedeutung, ist in der Regel nicht von einem Überwiegen des Interesses der Strafverfolgung auszugehen“.

Wie funktioniert eine TKÜ in der Praxis? Der zuständige Provider leitet zunächst den kompletten Telefonverkehr weiter, der dann anschließend bei der Strafverfolgungsbehörde gespeichert und später angehört wird. Jeder Datensatz muss dabei manuell geprüft werden. Das erklärt die Zeitspanne zwischen den Telefonaten und den Benachrichtigungen durch die Staatsanwaltschaft.