„Wie man diese Mauer durchbricht, ist die Frage“
BJV-Podium „Journalismus und Krieg“ mit Christoph Koopmann, Julia Smilga, Jürgen Schleifer und Till Mayer
BJV-Podium „Journalismus und Krieg“ mit (von links nach rechts): Christoph Koopmann, Julia Smilga, Jürgen Schleifer und Till Mayer
Auf dem BJV-Podium „Journalismus und Krieg“ stellte Julia Smilga das Projekt Radio Wahrheit für Russland vor. Auch Ukraine-Experte Mayer und SZ-Redakteur Koopmann erzählten von ihrer Arbeit
Der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar habe den Begriff Zeitenwende geschaffen, leitete Moderator Jürgen Schleifer die Podiumsdiskussion „Reporter als Zielscheibe – Journalismus und Krieg“ ein. Gemeinsam eingeladen hatten der BJV und der Presseclub München, die Veranstaltung wurde zudem im Livestream übertragen.
Auf dem Podium: SZ-Redakteur Christoph Koopmann, Lokalredakteur und Ukraine-Experte Till Mayer und Julia Smilga, Mitgründerin von Radio Wahrheit für Russland. Der Abend war so emotional wie informativ. Zuvor hatte der Bayerische Journalisten-Verband die Preisträger des „Wettbewerbs zum Tag der Pressefreiheit“ ausgezeichnet.
Zweieinhalb Monate kein Tageslicht
Till Mayer (tillmayer.de; erschuettert.org) zeigte zum Auftakt des Podiums seine Bilder von traumatisierten Kindern im Krieg; Bilder von alten Menschen, die aus der Ukraine nicht flüchten können oder wollen; und Bilder von Soldaten, die schon seit Jahren im Donbass ihr Land verteidigen. Die Fotografien machten nachdenklich und gingen in ihrer traurigen Emotionalität nahe. Ein kleiner Bub, noch im Kinderwagen, hat seit zweieinhalb Monaten kein Tageslicht gesehen, weil seine Familie ihn in einem U-Bahnhof von Charkiw vor Raketen und Artilleriebeschuss schützen will.
Mayer, Redakteur beim Obermain Tagblatt, reist seit vielen Jahren, meistens als freier Journalist, in die Ukraine, auch um einen Krieg zu dokumentieren, der nicht erst am 24. Februar 2022, sondern bereits vor acht Jahren begann. Ein Dutzend Mal sei er in früheren Jahren an der Front gewesen, nur bei einer einzigen Reise sei nicht gekämpft worden. Mayer erzählte von Schützengräben, die sich über 100 Kilometer streckten. Er nimmt Journalist*innen deutlich in die Kritik, als er die Frage in den Raum stellt, „warum wir jahrelang so eigenartig schweigsam waren“. Seit Kriegsausbruch war Mayer zwei weitere Male in der Ukraine.
„80 Prozent würden sagen: Das ist ‚Fake‘“
Nach Mayers Fotopräsentation im Presseclub München, sagte BR-Journalistin Julia Smilga nachdenklich: Sie habe sich die ganze Zeit überlegt, was wohl die Menschen in Russland sagen würden, wenn sie die Bilder sähen. „80 Prozent würden sagen: Herr Mayer, das ist ‚Fake‘. Wie man diese Mauer durchbricht, ist die Frage“, sagte die Journalistin.
Um der Putin-Propaganda etwas entgegenzusetzen, hat die gebürtige St.-Petersburgerin den über Kurzwelle von München bis Japan empfangbaren Sender Radio Wahrheit für Russland (Telegram: t.me/pravdaforrussia) mitbegründet. Nachrichten, Expertengespräche und vor allem auch Geschichten von Menschen, die Zeitzeugen des schrecklichen Kriegs sind, werden in russischer Sprache gesendet.
Kurzwelle: Absolut sicher und überall erreichbar
Es gebe in Russland überhaupt keine unabhängigen Medien mehr, schilderte Smilga. Aber: Es gebe 20 föderale und 249 regionale Kanäle, die massivste Propaganda sendeten. Auch Internet-Plattformen seien abgeschaltet. Über VPN-Anbieter Onlinenachrichten zu konsumieren, koste nicht nur Geld, sondern hinterlasse Spuren und sei entsprechend gefährlich. Hier sieht Smilga die Chance von Radio Wahrheit für Russland: „Kurzwelle ist absolut sicher und überall erreichbar.“ Im kommenden BJVreport 03/2022, der Mitte Juni erscheint, berichten wir ausführlich über die Initiative.
Die Journalistin Smilga riskiert für ihr Engagement viel: Würde sie in ihre einstige Heimat heute mit ihrem russischen Pass einreisen, drohten ihr 15 Jahre Haft, denn der Radiosender nennt den Ukrainekrieg als solchen beim Namen. „Solange Russland so ist, wie es jetzt ist, möchte ich nicht dorthin. Und ich werde alles tun, damit es sich verändert. Und wenn unser kleiner Beitrag dabei hilft, dann bin ich bis ans Ende meines Lebens stolz. Deshalb habe ich gesagt: Ok, dann mach‘ ich’s!“, begründete sie ihr Engagement.
Probleme mit der Medienfreiheit auch in der Ukraine
SZ-Redakteur Christoph Koopmann, Ressort Außenpolitik, riss zudem einen Aspekt an, der bislang wenig thematisiert wird: Die größte Gefahr für die ukrainischen Medien gehe zwar von Putins Raketen aus. Doch auch in der Ukraine gebe es Probleme in Sachen Medienfreiheit. „Präsident Selenskyj versucht das ukrainische Narrativ zu stärken“, erläuterte Koopmann. Kurz nach Kriegsausbruch hatten sich die vier großen TV-Sender des Landes zusammengeschlossen, seither wird auf allen Kanälen das Gleiche gesendet.
Anfangs ging der Zusammenschluss von den Sendern selbst aus. Inzwischen allerdings hat, wie Koopmann erzählte, die Regierung ein Dekret erlassen, das alle Sender, die sich vormalig als Nachrichtensender bezeichneten, jetzt dazu verpflichtet, die einheitliche Informationspolitik der Regierung zu verbreiten.
Selenskyj bezeichnete er zudem als „irren Profi“, was die Handhabe von Social Media angehe. Der Präsident postet über seinen Telegram-Kanal täglich Nachrichten ans ukrainische Volk und trifft dabei wohl so gut den Ton, dass die Bedeutung großer Medien schwindet. Viele Menschen hätten das Gefühl, diese nicht mehr zu brauchen.
Der Moskauer Propaganda-Apparat
Doch noch einmal zurück nach Russland. Wie konnte es Wladimir Putin gelingen, dass bis zu 80 Prozent der Menschen im Land seinen Lügen Glauben schenken? Koopmann sprach von „jahrelanger, mühlevoller Arbeit im Moskauer Propaganda-Apparat und einem „ganz, ganz engen Korridor an Meinungen, die überhaupt noch einen Weg ins Volk finden“. Hauptinformationsquelle in Russland sei das Fernsehen – und das sei relativ leicht unter Kontrolle zu bringen.
Es gehe um Emotionalisierung, die Putin entstehen lasse aus den Narrativen des Nationalsozialismus, betonte Julia Smilga. „Es wird auch wirklich Geschichte umgeschrieben“, ergänzte Till Mayer. Einer Umfrage zufolge gaben 53 Prozent der Menschen im Land an, Stalin zu verehren. Jahre zuvor dürfte es ein Bruchteil gewesen sein.
Entsprechend sicher ist sich Smilga deshalb auch: „Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende ist, werden wir trotzdem noch lange mit propagandabetäubten Menschen zu tun haben.“ Deshalb versucht das Team von Radio Wahrheit für Russland die Initiative auf noch professionellere Füße zu stellen, sucht nach Finanzierungsmöglichkeiten und vor allem auch nach einem „Manager, der uns an die Hand nimmt und aus uns ein noch tolleres Radioprojekt macht“.
Michaela Schneider
Presseclub München: Livestream der Podiumsdiskussion (Beginn 1:10:55)