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BJVreport

Wirtschaftsjournalismus - „Es geht nicht um dröge Zahlen“

18.10.2024
Ein Artikel aus dem BJVreport von
Michaela Schneider

Gute Regionaljournalist*innen arbeiten heraus, wie Wirtschaftsthemen das Leben der Menschen vor Ort beeinflussen.

Bilanzberichterstattung war einmal in den Wirtschaftsressorts vieler Regionalzeitungen. Das hat sich geändert. „Gottseidank“, sagt Barbara Brandstetter, Professorin für Wirtschaftsjournalismus in Neu-Ulm. Möglichst nah am Verbraucher, menschelnd und konstruktiv lautet heute die Devise in Redaktionen. Und trotzdem geht es um große, komplexe Themen wie die digitale Transformation, den Fachkräftemangel, Nachhaltigkeit oder auch flexible Arbeitsmodelle. Denn sie betreffen die großen Player in der Region ebenso wie den kleinen Familienbetrieb. Für den BJVreport wollten wir wissen, wie sich Wirtschaftsjournalismus im Regionalen verändert hat und was gute Berichte ausmacht.

Brandstetters Erfahrung nach werde Wirtschaftsberichterstattung im Lokalen heute häufig von Allroundern gemacht. Es sei auch nicht nötig, sagt die 51-Jährige, dafür Volks- oder Betriebswirtschaft studiert zu haben: „Die reine Bilanzberichterstattung ist deutlich zurückgegangen.“ Allerdings beobachtet die Journalistik-Professorin, dass gerade auch junge Kolleg*innen einen oft unbegründet großen Respekt vor Wirtschafts- und Finanzthemen hätten. Wollten Redaktionen angehende Journalist*innen für Wirtschaftsthemen begeistern, müssten sie vor allem eines verdeutlichen: Es gehe nicht um dröge Zahlen, sondern um ein Gebiet, das allumfassend und wahnsinnig spannend sei: „Es betrifft so viele Lebensbereiche von jedem von uns. Fast jeder ist Arbeitnehmer oder selbstständig, muss Geld verdienen, ist Steuerzahler.“

„Ein Schatz voller Geschichten“

Das sieht Peter Müller, Chefredakteur von Augsburger Allgemeine, recht ähnlich: Gerade die Wirtschaftsberichterstattung biete jungen Kolleg*innen viele Freiräume und sei ein spannendes Spielfeld. Er spricht mit Blick auf die starke, regionale Wirtschaft in der bayerisch-schwäbischen Region von einem „Schatz voller Geschichten, den es zu heben“ gelte. Vor einem guten Jahr startete das Medienhaus die Serie „Bayerns Mutmacher“ auf der regionalen Wirtschaftsseite und stellt hier in relativ langen, recht aufwändig aufbereiteten Stücken erfolgreiche Unternehmen aus dem Verbreitungsgebiet vor: die Augsburger „Rocket Factory“ etwa, die für die Entwicklung eines Trägerraketensystems „Made in Germany“ als Innovator des Jahres 2024 ausgezeichnet wurde; oder die Familienbrauerei Schwarzbräu, die neuerdings Whisky produziert. „Wir wollen zeigen, dass es auch angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Stimmung, in die wir uns ein Stück weit selbst reinreden, durchaus Erfolgsgeschichten gibt“, sagt Müller. Und als Erfolgsgeschichte hat sich die Serie wohl auch fürs Medienhaus selbst entpuppt: Nicht nur, dass Redakteur*innen auf diese regelmäßig angesprochen werden und die Themen nicht ausgehen; auch generieren die Geschichten um „Bayerns Mutmacher“ zunehmend Online-Abos.

„Ich persönlich bin der Meinung, dass Wirtschaft für den Lokaljournalismus ein immens wichtiges Feld ist“, erklärt Christian Eckl, Mitglied der Chefredaktion von Mittelbayerische Zeitung (MZ). Seit diese der Mediengruppe Bayern angehört, habe sich die Struktur der Wirtschaftsredaktion im Kern verändert, weil wieder mehr Ressort-Verantwortlichkeit eingeführt wurde. Eckl zeichnet seither auch für die regionalen Wirtschaftsseiten verantwortlich; zur Seite steht ihm ein Jungredakteur; ein früher angestellter, gut vernetzter Kollege unterstützt freiberuflich. Die tägliche überregionale Wirtschaftsseite wird vom Schwesterverlag Passauer Neue Presse zugeliefert, regelmäßig produziert die MZ zudem eine und etwa zweimal die Woche zwei Seiten Regionalwirtschaft.
Für die Wirtschaftsberichterstattung gilt laut Eckl wie generell im Journalismus: Eine gute Geschichte lebe von den Menschen, die sie erzählen. So veröffentlichte die Mediengruppe Bayern kürzlich hausübergreifend eine Serie, in der seltene Berufe vorgestellt wurden wie etwa ein Auktionator bei Sotheby‘s. Ein gutes Netzwerk bringe gute Geschichten. Kritik müsse immer angemessen sein. Auch gute Nachrichten würden gern gelesen. Guter Lesestoff sei zum Beispiel die kritische, aber auch konstruktive Auseinandersetzung mit den Arbeitsbedingungen, den Innovationen oder der Leistungsfähigkeit der Betriebe vor Ort, sagt Eckl.  Und er betont:

„Wir berichten über die Region, in der wir und unsere Leser leben. Unsere Geschichten müssen das Leben widerspiegeln. Dann machen wir eine lebendige Zeitung.“

Bei der Allgäuer Zeitung fiel vor kurzem die Entscheidung, die „Wirtschaft am Ort“ nicht länger als eigenes Ressort auszuweisen. Nicht, weil weniger Wirtschaftsthemen erscheinen, sondern, um flexibler zu werden und sie abhängig von der Relevanz zu platzieren, betont Helmut Kustermann. Deutlich wichtiger ist es laut dem Mitglied der Redaktionsleitung in einer zunehmend komplexeren Welt geworden, im Lokalen und Regionalen zu erklären, worüber überregional diskutiert wird. Anders ausgedrückt: Themen werden anschaulich auf die Region heruntergebrochen. Über das Lieferkettengesetz zum Beispiel werde nahezu täglich im Mantelteil geschrieben, nennt Kustermann ein Beispiel. Doch manchen Leser*innen werde erst klar, worum es eigentlich geht, wenn man anhand des kleinen Bäckereibetriebs um die Ecke erkläre, was es für diesen bedeuten könne. Und: Wie wirkt sich dies auf das persönliche Lebensumfeld der Menschen vor Ort aus? Exempel Nummer zwei: Anhand eines Dachdeckerbetriebs aus dem Kreis Lindau bereitete die Allgäuer Zeitung auf, was der Fachkräfte- und Lehrlingsmangel konkret für einen Betrieb bedeutet und was er dagegen unternimmt, Stichwort konstruktiver Journalismus.

Weniger Termine, mehr eigene Akzente

Übereinstimmend bestätigen die Medienhäuser: Terminjournalismus wurde deutlich heruntergefahren – und längst nicht nur, weil es dafür am Personal und der Zeit fehlt. Lädt ein Unternehmen zur Pressekonferenz, sollten Journalist*innen auf die Themen hinter den Jahresbilanzen schauen – und den Termin zum Beispiel lieber für ein Porträt über den neuen stellvertretenden Geschäftsführer nutzen. „Weniger Termine – stattdessen mehr eigene Akzente setzen; am User orientieren; bei wichtigen Themen dranbleiben und eine Themenkarriere planen“, rät man im Verlag Nürnberger Presse.

Und dennoch bleiben Termine wichtig, vor allem auch, um Netzwerke zu pflegen. Dann besteht, wie es etwa auch Helmut Kustermann kürzlich erlebte, durchaus die Chance auf eine Exklusivgeschichte über den Verkauf eines großen Familienunternehmens, ehe dieses die offizielle Pressemeldung verschickt. Bei Geschichten über die großen Player der Region arbeiten laut Kustermann schon einmal mehrere Ressorts zusammen, wenn klar ist, dass auch überregionale Medien darauf anspringen werden. „Wir wollen auf keinen Fall, dass bei Themen aus unserer Region andere den Ton angeben. Wenn etwas hier im Allgäu passiert, haben wir den Anspruch, exklusiv zu berichten. Dafür brauchen wir eine gewisse Schlagkraft“, sagt Kustermann.


Und: Vorsicht vor Pressemeldungen. „Damit betreiben Unternehmen oft Schönfärberei. Die Dramatik von Entlassungen oder, in welche unruhigen Fahrwasser der Betrieb geraten ist, zu erkennen, zu gewichten und in einen Gesamtzusammenhang zu setzen, ist dann unsere ureigenste Aufgabe“, sagt Marcel Auermann, Gesamtchefredakteur der Verlagsgruppe Hof, Coburg, Suhl und Bayreuth. Dort löste man vor geraumer Zeit mit Ausnahme des Sports sämtliche klassischen Ressorts auf. „Wir haben Wirtschaftsthemen nicht mehr auf einer Ghettoseite wie früher, sondern streuen die Berichte über alle Bereiche hinweg“, so Auermann, und weiter: „Mit einem guten Porträt, Interview oder Frage-und-Antwort-Stück spreche ich auch die an, die früher die Wirtschaftsseite direkt weggelegt haben. Die Reichweite hat sich dadurch deutlich erhöht.“

Für eine gute Wirtschaftsberichterstattung braucht es laut Auermann nur einen zentralen Tipp: „Denken Sie immer vom Verbraucher her. Nehme ich seine Perspektive ein, bereite ich jedes Thema so auf, dass er es versteht und weiß, wie stark es ihn betrifft.“ Trendthemen setze häufig die Politik – und dann sei es an den Journalist*innen, zu erklären, was es bedeute, den alten Heizkessel auszuwechseln oder welche Fördertöpfe es gebe, um eine Photovoltaikanlage zu finanzieren. In einem Frage-Antwort-Stück habe die Redaktion kürzlich erst erklärt, was es für den Einzelnen heißt, wenn die Europäische Zentralbank den Zins senkt.


 

So gelingt eine gute Wirtschaftsberichterstattung im Regionalen –
Tipps von Barbara Brandstetter, Professorin für Wirtschaftsjournalismus

1.  Keine Angst vor Wirtschaftsjournalismus! Wer ein Grundinteresse für das Themengebiet mitbringt, kann sich einarbeiten auch ohne ein BWL- oder VWL-Studium.

2.  Was zählt, sind Alltagsnähe und die unmittelbare Betroffenheit der Menschen. Die Schließung der Brauerei im Ort, der neue gastronomische Betrieb, Veränderungen in der Fußgängerzone: Das alles ist lupenreine Wirtschaftsberichterstattung.

3.  Jede Pressemeldung ist zu hinterfragen. Agiert ein Unternehmen zum Beispiel wirklich nachhaltig oder betreibt es Greenwashing?

4.  Auch eine Bilanzpressekonferenz kann spannend sein, wenn der Journalist oder die Journalistin Daten nicht ungeprüft veröffentlicht, sondern sich die Zeit nimmt für einen Blick in die Bilanzen der Vorjahre und die wirklich relevanten Entwicklungen herausarbeitet.

5.  Politische Themen lassen sich häufig aufs Regionale herunterbrechen; was interessiert, ist die Nutzwert-Perspektive. Wie wirkt sich etwa die Ampelpolitik im Energie- oder Gebäudesektor ganz konkret auf die Lebenswelt der Menschen aus?

6.  Eine gute Mischung aus negativen und positiven Nachrichten tut auch der Wirtschaft gut, Stichwort konstruktiver Journalismus.

7.  Bei der Auswahl der Interviewpartner*innen sollten Journalist*innen darauf achten, dass die Zeitung nicht „zu alt, zu weiß und zu männlich“ wird. Das ist laut Brandstetter gerade auch im Wirtschaftsteil mitunter noch ein Problem.

Dieser Artikel erschien zuerst im BJVreport 4/2024.

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