Ralph Gladitz, freier Journalist aus München
Foto: Ralph Gladitz (Selfie)

BJVreport

Türkei: „Keiner weiß so richtig, was gerade passiert“

Ralph Gladitz über seine Dreharbeiten nach dem gescheiterten Putsch

München, 27.07.2016

7000 Journalisten in der Türkei sind arbeitslos, außerhalb der Zentren seien Journalisten quasi automatisch in Lebensgefahr: Bereits im Mai hatte Journalist Baha Güngör bei einer Podiumsdiskussion des BJV in München ein düsteres Türkei-Bild skizziert.

Inzwischen haben sich die Ereignisse überschlagen, nach dem gescheiterten Putsch hat Präsident Erdogan tausende Soldaten, Richter, Staatsanwälte, Polizisten und andere Staatsbedienstete verhaften oder suspendieren lassen. Für den ARD-Beitrag des Weltspiegel extra: „Gespalten nach dem Putsch – Wohin steuert die Türkei?“ schickte das Bayerische Fernsehen den freien Journalisten Ralph Gladitz kurz nach dem Putsch für zweitägige Dreharbeiten nach Istanbul. Der 53-jährige Münchner erzählt im Interview, wie er die Tage als Journalist dort erlebt hat.

Sind Sie mit einem flauen Gefühl nach Istanbul geflogen?

Ralph Gladitz: Ich bin relativ entspannt geflogen. Ich habe am Montag nach dem Putsch den Auftrag bekommen, sofort alles organisiert und bin Dienstagmittag gelandet. Ich war letztes Jahr schon mal drei Wochen in Istanbul und habe dort eine Studiovertretung für den BR gemacht. Damals war ich völlig begeistert, wie weltoffen diese Stadt ist, wie mir die Menschen begegnet sind. Auch bei einer Drehreise aufs Land in den Süden konnten wir letztes Jahr in kleinen Städtchen sehr offen mit der Bevölkerung reden. Dieses Mal habe ich gleich von Beginn an ein ganz anderes Klima gespürt.

Beschreiben Sie dieses Klima genauer ...

Überall hingen türkische Flaggen, egal wo. Als ob da Nationalfeiertag wäre oder die Türkei die Weltmeisterschaft gewonnen hätte. An den Häusern, an den Straßen, an Firmengebäuden, an den großen Plätzen: riesige Werbebanner mit dem Spruch „Wir sind das Volk.“ Mir hat das dann jemand übersetzt mit den Worten „Erdogan ist das Volk“.

Den Rest habe ich über meine Protagonisten, die im Beitrag vorkommen, erlebt. Keiner weiß so richtig, was gerade passiert. Wir merkten rasch, dass die Leute nicht nur verunsichert und beunruhigt sind, sondern tatsächlich Angst haben. Angst, dass sich das Leben in der Türkei, wie sie es kennen, komplett verändern wird. Die Menschen stehen unter dem Eindruck der Putschnacht, haben Düsenjäger und Schüsse gehört, alles hautnah mitbekommen. Vor allem aber wird ein paar Tage nach dem Putsch immer deutlicher: Jetzt entwickelt sich’s zu einer Erdogan-Autokratie.

Wie sicher oder unsicher haben Sie sich während der Dreharbeiten gefühlt?

Als deutschem Journalist in der Türkei sind mir die Menschen früher unwahrscheinlich freundlich begegnet. Das ist mir in Teilen jetzt auch noch passiert - sobald ich direkt ins Gespräch kam, in Kneipen oder so. Aber auf der Straße, in der Nähe von Menschenmassen, habe ich immer wieder gemerkt, dass ich mich unwohl, dass ich mich negativ beobachtet fühle.

Man erkennt mich mit meinen blonden Haaren recht schnell als deutschen Journalisten. Da kam immer wieder ganz schnell die Frage: „Für wen senden Sie?“ Sobald klar war, dass wir fürs deutsche Fernsehen drehen, hieß es: „Nein, da wollen wir nicht drin sein!“ Bei manchen Leuten war das sicher Angst, am Taksim-Platz bei den Nationalisten indes eher Ablehnung nach dem Motto: „Ihr Deutschen versteht uns nicht, Ihr dreht das in Eure Richtung, Ihr sagt, wir seien die Bösen.“ Diese polarisierte Stimmung in der Türkei habe ich vorher nie erlebt. Es gibt nur noch Gut oder Böse, die eine oder die andere Seite.

Im Beitrag heißt es „Es wird zunehmend schwieriger, jemanden zu finden, der spricht“. Wie haben Sie Interviewpartner gefunden?

Mein Kamerateam vor Ort – ein freies Team, das ein Kollege vermittelt hatte – hatte für mich schon ein Protagonistenpärchen organisiert. Wir hatten aber tatsächlich große Probleme, einfach nur Leute zu finden, die überhaupt sprechen. Während wir bereits drehten, arbeiteten mir parallel drei Producer zu und suchten Interviewpartner. Es war in den Tagen schon klar, dass Lehrer entlassen werden. Wir wollten also an Lehrer rankommen, haben es aber nicht geschafft. Kein Einziger war bereit, vor die Kamera zu gehen.

Gab es Situationen, in denen Sie sich direkt bedroht fühlten?

Wir haben abends auf dem Taksim-Platz gedreht – tatsächlich nur gedreht, ich habe keinen einzigen Menschen angesprochen. Plötzlich kam ein junger Mann auf uns zu, der eher hip, ein bisschen alternativ aussah. Er hat uns gefragt, warum wir eine verschleierte Frau gefilmt hätten – und dass wir da nichts Böses daraus machen, nicht wieder irgendwelche Wertungen reinlegen sollten.

Er wollte wissen, wo wir herkommen, für wen wir drehen, hat nach dem Presseausweis gefragt. Dann hat er sich als Zivilpolizist zu erkennen gegeben. Wir haben beobachtet, wie der junge Mann zu uniformierten Polizisten gegangen ist, zu uns gedeutet, mit ihnen geredet hat. Mein Kameramann hat dann gemeint, jetzt sollten wir uns besser verziehen.

Und auch in der Fußgängerzone sind wir von einem – angeblichen – Zivilpolizisten angesprochen worden. Es geht einfach darum zu zeigen: „Wir sind hier, wir beobachten Euch, wir wollen nicht, dass Ihr was Kritisches berichtet, passt auf, was Ihr macht!“

Solche Situationen stelle ich mir für Sie als freien Journalisten noch heikler vor, ohne die direkte Rückendeckung einer Redaktion ...

In der Türkei war ich ja nun im Auftrag des BR, da habe ich die Möglichkeit, sofort im Studio anzurufen. Die Kollegen würden mir natürlich helfen, wenn etwas wäre, wenn Ausrüstung abgenommen oder ich verhaftet würde. Zurzeit gibt es zudem bei der deutschen Botschaft eine direkte Ansprechpartnerin, die sich um Pressebelange kümmert.

Pressebelange ... Was genau erleben Journalisten zurzeit in der Türkei, was erzählen Kollegen dort?

Ein Kameramann aus unserem Studio ist bereits selbst bedrängt worden, ihm wurde die Faust gezeigt. Das ist inzwischen die Alltagssituation hier. Ein ZDF-Kollege hat in einem Stadtteil von Istanbul gedreht bei einer Pro-Erdogan-Veranstaltung mit mehreren tausenden Leuten. Gesprochen hat ein lokaler Bürgermeister des Stadtteils, plötzlich aufs Kamerateam gezeigt und gesagt: „Übrigens sind auch deutsche Journalisten hier, wir wissen ja was die machen!“ Er hat versucht, die Menge gegen das Team aufzubringen. Es kamen Schmährufe, dann kamen ziemlich schnell zwei Polizisten, die das Team aus der Menge rausgeleitet haben. Sie meinten, das sei zu ihrem Schutz.

Hatten Sie Kontakt zu türkischen Kollegen?

Die junge Frau im Fernsehbeitrag, unsere Protagonistin, war selbst Journalistin. Allerdings arbeitet sie inzwischen nur noch im Marketingbereich, weil ihr die Arbeit zu brenzlig wurde, weil sie mitbekommen hat, wie die Stimmung schon seit einigen Jahren umschlägt.

Alle berichten mir aber, dass türkische Journalisten, die einfach nur versuchen neutral zu berichten statt die Regierungslinie komplett zu übernehmen, massiv Probleme bekommen. Entweder bekommen sie keine Aufträge mehr, dürfen nicht mehr arbeiten oder werden tatsächlich bedroht. Konkrete Verhaftungen habe ich nicht mitbekommen, aber ich weiß natürlich von diesen Fällen, auch über „Journalisten helfen Journalisten“.

Wie haben Sie die Berichterstattung im türkischen Fernsehen wahrgenommen?

Dafür nur ein Beispiel. Auf dem Taksim-Platz drehten wir am Abend, dort wo seit der Putschnacht jeden Abend Erdogan-Anhänger, Nationalisten, auch die türkischen Hardliner „Graue Wölfe“ präsent sind. Und wo man übrigens auch viel mehr Frauen mit Kopftüchern als in der übrigen Stadt sieht.

Die Extremisten laufen dort auf, das ist wie ein Volksfest. Es gibt umsonst Essen und Getränke, Fahnen werden verteilt. Wir haben erlebt, dass vielleicht 300 oder 400 Menschen mit Fahnen da standen, direkt vor den großen Kameras. Auf den Großleinwänden vor Ort wird das übertragen und sieht dann so aus, als ob da mehrere tausend Menschen stehen.

Solche Versammlungen finden momentan jeden Abend in der gesamten Türkei, auch in kleineren Städten statt. Und diese Bilder laufen auf allen türkischen Kanälen, die ganze Zeit.

Sind Sie froh raus aus der Türkei, zurück in Deutschland zu sein?

Ich war am Ende des Aufenthalts noch einmal ohne Kamera, ganz privat in Istanbul unterwegs. Dabei habe ich nichts Negatives erlebt, im Gegenteil. Die Leute scheinen froh, wenn Deutsche kommen. Die Wirtschaft, der Tourismus brechen ein – und die Menschen brauchen jeden Besucher, der noch in die Türkei kommt. Unangenehm ist tatsächlich nur die Situation mit Kamera, die Situation als Journalist zu arbeiten.

Würden Sie wieder in Türkei fliegen?

Ja, natürlich.

Ralph Gladitz‘ ARD-Beitrag Weltspiegel extra (zirka 14 Minuten): „Gespalten nach dem Putsch – Wohin steuert die Türkei?“ ist in der ARD-Mediathek abrufbar.

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