09.04.2020
Wenn die Krise Trends beschleunigt – MTMdigitalks Vol. 1
Vielleicht gar der „Cut einer täglich gedruckten Zeitung“: Anita Zielina im Gespräch mit Michael Praetorius
Münchner Medientage starten mit #MTMdigitalks neue Online-Reihe.
Die Münchner Medientage starteten mit #MTMdigitalks (Aufzeichnung, 2:22:06 Std.) eine neue Online-Reihe. Los ging es am Dienstagnachmittag mit kurzen Vorträge und Interviews zu „Medien in Zeiten von Corona“.
„Schmeiß was auf dem Markt, teste es am Publikum und verbessere es“: Thomas Hinrichs, Programmdirektor beim Bayerischen Rundfunk, hält dieses Prozedere auch bei der Entwicklung neuer Formate im eigenen Haus keineswegs für verwerflich, im Gegenteil. Doch während das Arbeiten im so genannten „Betamodus“ dort wie auch bei jungen Start-ups gang und gebe ist, tut sich manches etablierte Unternehmen im Normalfall damit schwer. Innovation geschieht häufig eher schleppend.
„Zwangsdigitalisiertes“ Arbeiten in der Betaphase
Jetzt aber „zwangsdigitalisiert“ Covid19, verbunden mit Ausgehbeschränkungen und einer in Teilen lahm gelegten Wirtschaft, selbst jene, die den „Digi-Zug“ bisher verpasst hatten. Rasches digitales Handeln ist angesagt, auch wenn Formate längst nicht hundertprozentig ausgereift sind. #MTMdigitalks haben die Münchner Medientage ihre ebenfalls rasch geschnürte neue Online-Reihe überschrieben.
Brancheneinblicke ohne Anreiseaufwand
Dafür hatte das Medientage-Team einige prominente Redner*innen gewinnen können zum Thema „Medien in Zeiten von Corona“. Bild und Ton ruckelten hier und da, auch vergaß Moderator und NOEO-Geschäftsführer Michael Praetorius (@praetorius) zwischendurch, den eigenen Ton anzuschalten, Stichwort Betaphase.
Doch das alles war halb so dramatisch, denn die Brancheneinblicke, ohne Anreiseaufwand und kostenfrei konsumierbar im heimischen Büro, Chatfunktion für Fragen inklusive, waren umfassend. „Manchmal ist es ja so, dass man im Gewitter wieder klarer sieht“, sagte Siegfried Schneider, Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM), und warb dafür die Möglichkeiten digitaler Transformation zu nutzen.
44 Prozent mehr Deutschen schauen fern
Dass der Medienkonsum in den letzten Wochen auf allen Kanälen massiv gestiegen ist, dürfte keine Überraschung mehr sein. Klaus Böhm, Deloitte Consulting Deutschland (Video seines Vortrags bei Youtube, 13:20 Min.), untermauerte dies aber mit konkreten Zahlen und präsentierte Ergebnisse des „Media Consumer Survey 2020“. Im Folgenden nur einige Aspekte.
44 Prozent der Deutschen konsumieren demnach in Zeiten der Pandemie mehr lineares Fernsehen; bei Mediatheken steigt der Anteil der täglichen Nutzer um 55 Prozent; 30 Prozent der Befragten hören derzeit mehr Radio. Digitale Zeitungsabos sind um 31 Prozent in die Höhe geschnellt, Print allerdings wird etwas weniger gelesen als zuvor; und auch Podcasts etablieren sich laut der Umfrage noch einmal verstärkt als zusätzlicher Informationskanal.
Also alles rosig in der Medienbranche? Böhm verneinte, denn die Medienhäuser spüren die negativen Folgen von COVID-19 massiv, weil Werbeerlöse drastisch sinken und andere Geschäftsfelder wie etwa Veranstaltungen komplett wegbrechen. Verlage sollten daher ihre Strategien überdenken – und sich künftig unter anderem stärker Richtung Paid Content orientieren, sagte Böhm.
Bloß keine Bauchentscheidungen
„Wir wissen spätestens jetzt, dass die Digitalisierung nicht mehr weggeht“, sagte BR-Programmdirektor Thomas Hinrichs (@t_hinrichs). Zwei Aspekte stelle er als zentral heraus: Man müsse die Digitalisierung als Chance und nicht als Bedrohung verstehen, Stichwort „Mindset“; und es brauche Digitalkompetenz komplett über alle Einheiten des Unternehmens. Inhalte würden heute beim BR unabhängig von den Plattformen gedacht.
Gleichzeitig setzt Hinrichs weiter auf die Stärken des Öffentlich-Rechtlichen: Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit. Und gemerkt habe man nun, in der Krise, in welchen Bereichen man nicht ganz so stark sei, nämlich zum Beispiel darin, Nicht-Muttersprachler mit Informationen zu erreichen. Geschaffen hat der BR deshalb inzwischen ein fünfsprachiges Angebot. Von einem allerdings rät der Programmdirektor ab – von „Entscheidungen aus dem Bauch heraus“. Er empfiehlt stattdessen, neue Angebote „schnell, fokussiert, datenbasiert und KI-gestützt“ zu schnüren.
Trends drastisch beschleunigt
Zugeschaltet aus den USA war Anita Zielina (@Zielina), Director of News Innovation and Leadership an der Craig Newmark Graduate School of Journalism der City University New York, kurz Cuny. Sie schilderte die derzeit paradoxe Situation der Medienhäuser anschaulich: Bestehende Geschäftsfelder brechen rasend schnell weg. Gleichzeitig steigen die Zugriffszahlen auf die Medienangebote extrem.
Die aktuelle Krise habe bestehende Trends ganz stark beschleunigt, erklärte die österreichische Journalistin. Gleichzeitig arbeiten Journalisten – erstmals in dem Umfang aus dem Homeoffice – aktuell nahezu rund um die Uhr und bereits „am Rande des Burnout“. Und etliche Verlagshäuser haben nun auch noch Kurzarbeit angemeldet. In der Situation sei es für Journalist*innen schwierig, den Blick in die Zukunft zu richten – Anita Zielina machte es stellvertretend.
Chancen sieht sie vor allem auch darin, dass das Vertrauen in bestehende und traditionelle Medienmarken wieder ganz, ganz wichtig geworden sei; dass „Szenarien in Verlagsschubladen“ nun wohl vielerorts sehr beschleunigt umgesetzt werden, vielleicht gar inklusive dem „Cut einer täglich gedruckten Zeitung“; und dass die Transformation ins Digitale mit entsprechenden Zahlmodellen verstärkt vorangetrieben werde.
Sie empfahl, die aus der Krise heraus gewonnene Energie zu nutzen, krisenbezogene Produkte nicht als „One-Shot“, sondern nachhaltig zu bauen, den Konsumenten die Chance für Feedback zu geben und so digitale Produkte zu entwickeln, für die Nutzer bereit sind, auch Geld zu zahlen.
„Ein gewisser Skeptizismus“
Jochen Wegner (@jochen), Chefredakteur des Online-Auftritts der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit zeigte sich im kurzen Talk erst einmal positiv überrascht, wie gut Homeoffice und Videokonferenzen, immerhin mit bis zu 80 Teilnehmern, in der Praxis funktionieren. Man werde ganz anders über Bürokonzepte nachdenken in Zukunft, so der Chefredakteur. Als „Glückserfahrung“ beschrieb er Reichweiten so hoch wie noch nie.
Mit Blick auf Fragen und Einschätzungen zu COVID19 sowie der journalistischen Herangehensweise sagte Wissenschaftsjournalist Wegner: Gefragt sei jetzt ein gewisser Skeptizismus. „Wir versuchen sehr, vorsichtig, sehr tastend zu sein“, und weiter: „Ich misstraue im Moment eher Experten, die sagen: ‚Ich weiß genau, wie es läuft‘“. Die höchsten Zugriffszahlen erreichte übrigens bei Die Zeit nun ein Artikel, in dem ein Genussredakteur aufforderte, Hamsterkäufe zu unterlassen und erklärte, was es in einer Speisekammer brauche, um wirklich gut kochen zu können (weitere Erfahrungen von Jochen Wegner können Sie in seinem sehr lesenswerten Beitrag „Journalismus in Zeiten einer Pandemie“ im Glashaus-Blog von Zeit Online lesen).
Läuft gut: „Journalismus ohne Corona“
Eva Schulz (@evaschulz), die seit 2017 den funk-Videokanal Deutschland3000 betreibt, analysierte, welche Informationen und Medienformate junge Zielgruppen in Pandemiezeiten suchen und kam zum Ergebnis: Journalismus ohne Corona laufe derzeit erstaunlich gut.
Filme zum einen über Vorurteile gegenüber Hauptschüler*innen, zum anderen über Frauen, die sich bewusst gegen das Kinderkriegen entschieden hätten, hätten hohe Zugriffszahlen verbucht. Und gefragt seien genauso Satire, Unterhaltung, Serie.
Bewusst informieren, Normalität bewahren
Zu einem nicht allzu anderem Ergebnis kam übrigens auch Henrik Pabst, der seit März als Chief Content Officer alle Content-Themen bei ProSiebenSat. 1 TV Deutschland verantwortet.
Auf der einen Seite will sich das Fernsehpublikum demnach bewusst informieren, in dem Zusammenhang spricht er von „sehr klaren Nachrichtenerweiterungen“. Auf der anderen Seite wollten Zuschauer aber „fliehen und unterhalten werden und nicht in der Unterhaltung noch erinnert werden, dass Corona ist“. Entsprechend setzt das Medienhaus hier auf das „Bewahren von Normalität“.
Michaela Schneider/tm
Weitere Informationen
- Täglich aktualisierte Hinweise auf online abrufbare Artikel zum Thema Corona & Journalismus finden Sie in der Linksammlung Medien-Journalismus.de von Thomas Mrazek (@tmrazek).
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